Kleine Weisheitsschule
(Schopenhauer, Mystik und Magie)

Leseprobe

Linji, die schon recht betagte, silbergraue, mit feinen braunen Linien wie ein Tiger gezeichnete Katze, saß in majestätisch anmutender aufrechter Haltung auf dem halbrunden Deckel der hölzernen Büchertruhe, die mit dem Einzug in das alte Fachwerkhaus auf dem Stroh bedeckten Dachspeicher abgestellt worden war.

Nach einer scheinbar teilnahmslosen Weile richtete sich Linji auf und begann auf dem Deckel der Truhe unruhig hin und her zu laufen, so, als hinderten sie unsichtbare Gitterstäbe daran, herab zu springen. Ihre Anspannung nahm zu, die Schritte wurden schneller, ihre Schwanzspitze zuckte bei jeder Wendung. Plötzlich hielt sie inne.

Sie streckte die Vorderbeine, wodurch sich ihr Rücken in ein Hohlkreuz bog und kratzte schließlich nervös an den geschnitzten Verzierungen der Eichentruhe.

Erst nachdem sie sich der Aufmerksamkeit ihrer vier Artgenossen, die sich unterdessen vor dem ungewöhnlichen Podest im Stroh eingefunden hatten, gewiss war, eröffnete sie den Unterricht.

»Herzlich willkommen in der Weisheitsschule.

Ich freue mich, dass ihr auch an diesem Sonntagnachmittag wieder vollzählig erschienen seid.

Was ist die Welt?

Wir werden heute beginnen, uns mit dem Werk Arthur Schopenhauers zu befassen, nachdem wir in den letzten Unterrichtsstunden – ich hoffe, ihr erinnert euch noch – die Schule des Platon und auch die wesentlichen Gedanken der kantischen Philosophie wiederholten.«

Raunendes Mauzen machte die Runde.

»Was also ist die Welt?«, fragte Linji erneut, und ihr Blick richtete sich auf Wölkchen, auf Pünktchen, dann auf Nora und blieb bei Stupfi, dem einzigen männlichen Wesen dieser Gemeinschaft, haften. ›Was soll man darauf nur antworten?‹, fragte sich der kleine braun getigerte Kater mit dem sandfarbenen Näschen. ›Die Welt ist groß!

Die Welt‹, dachte er, ›ist einfach alles. Alles, was es gibt. – Und das muss ganz schön viel sein!

Doch würde diese Antwort besondere Aufklärung bieten?‹

Er hoffte, wenn er nur so täte, als sei er unsichtbar, besser: gar nicht vorhanden, würde die Frage wie ein Ungeheuer, das seine Beute nicht bemerkt, vielleicht an ihm vorüberziehen, aber Linji ließ nicht ab, ihn mit ihren blitzenden, smaragdgrünen Augen zu fixieren.

Stupfi erkannte sie als seine Lehrerin an und brachte ihr als solche großen Respekt entgegen, doch die Eindringlichkeit ihres Blickes kam schon beinahe einem bedrohlichen Niederstarren gleich und verunsicherte ihn zunehmend. Er spürte den wachsenden Druck ihrer Forderung sich mit einer Antwort preiszugeben - sich womöglich zu blamieren -, und wie zum Trotz wichen seine Gedanken in eine ganz andere, ja gegenteilige Richtung aus.